Geschwister – und ihre spezielle Sicht von Gerechtigkeit

oder:

Die Geschichte von Glitzi Glitz und Glänzi Glänz

Ich fand diese Ponys ja immer seltsam – aber irgendein wohlmeinender Verwandter schenkte meiner Erstgeborenen eins zum dritten Geburtstag (die Zweitgeborene war zu diesem Zeitpunkt vier Monate alt). Das Pony bekam den Namen Glitzi Glitz wegen des Silberflitters auf seiner Haut und landete recht schnell in einer Ecke, weil nicht wirklich interessant.

Ein paar Monate später hat es die Zweitgeborene entdeckt und das Pony mutierte zum Objekt ihrer Begierde. Und zum potentiellen Zankapfel unter den Schwestern. Kind 2 fand das Pony wunderbar und faszinierend, Kind 1 spielte zwar selber nie damit, der Schwester geben war aber undenkbar.

Es kam der zweite Geburtstag der Zweitgeborenen und die Idee, ihr doch selber ein eigenes Pony zu schenken (noch immer konnte ich den Sinn dieses Spielzeugs nicht einsehen, eigentlich bis heute nicht!) und so zog Glänzi Glänz bei uns ein.

Beim Auspacken war die Freude groß, nichtsdestotrotz ging das Pony ein wenig in der Flut der anderen Geschenke unter. Am Abend, als die Geburtstagsgäste längst den Heimweg angetreten hatten, saßen plötzlich beide Mädels mit ihren Ponys am Wohnzimmerboden und ich hörte den Satz meiner Erstgeborenen (mittlerweile 5):

„Wollen wir tauschen? Dann gehört dir Glitzi Glitz und ich bekomme Glänzi Glänz!“

In mir sprangen sofort mehrere Gedanken und Urteile gleichzeitig an:

  • „Unfair!“
  • „Wie kann sie ihr nur das alte zerrupfte Pony gegen das neue anbieten?“
  • „Mein armes Kleines! Die wird ja voll ausgenutzt“

Und natürlich war ich sofort am Sprung einzugreifen – obwohl ja noch nicht einmal ein Streit entstanden war.

Zum Glück, hab ich noch einmal durchgeatmet vor dem Einmischen.

Denn so hab ich das überglückliche Gesicht meiner Kleinen mitgekriegt. Glitzi Glitz wurde mit einer noch nie gesehenen Inbrunst ans Herz gedrückt und Glänzi Glänz war ihr vollkommen unwichtig!

Was ich daraus gelernt habe:

Erwachsenengerechtigkeit ist nicht immer gleich Kindergerechtigkeit!

Aus meiner Sicht war das neue „Vieh“ viel wertvoller, weil eben neu, noch nicht bespielt und ihr persönlich zum Geschenk gemacht.

Für sie aber war Glänzi Glänz bestenfalls ein Ersatz für das ursprüngliche Wunschobjekt!

Kinder gleich zu behandeln heißt nicht unbedingt, sie gerecht zu behandeln – aber das ist nicht immer leicht aus der Erwachsenensicht.

Wie Kinder Konflikte und deren Lösungen sehen

Für eine Studie wurden 80 Kinder im Alter von 5 bis 12 Jahren befragt (den ganzen Text kannst du hier nachlesen!) Ich schildere dir hier, was laut dieser Studie fünf- bis achtjährige Kinder über Streit und Konfliktlösung denken und ich finde die Ergebnisse sehr spannend.

Vor allem haben wir es im Alltag ja auch oft mit noch jüngeren Kindern und deren Streitigkeiten zu tun, da können wie die Aussagen der Kinder und Erkenntnisse der Studie nochmal „runterbrechen“!

Was ist für Kinder ein Streit?

Für fast alle Kinder bestehen Streitereien in körperlichen Auseinandersetzungen und das scheint in dieser Altersstufe eine durchaus akzeptierte Form zu sein.

Fast ein Drittel kann die Frage nach den Gründen ihrer Streitigkeiten nicht beantworten – sie haben noch große Schwierigkeiten, die Motive von Handlungen zu erkennen.

Klassischer Streitgründe:

1.      sich etwas wegnehmen
2.      unterschiedliche Handlungswünsche („Wollen wir spielen?““Nein!“ „Doch!“)
3.      Gleichheitsgrundsatz (Muster der strengen Gegenseitigkeit)

Freundschaft = harmonisches, reibungsloses, störungsfreies Miteinander spielen

Daraus folgt:

Streit = wenn einer aufgrund der Handlung des anderen nicht den begehrten Gegenstand haben oder tun kann, was er gern möchte.

Bei älteren Kinder deutet sich noch ein anderer Streitgrund an. Einer enttäuscht aufgrund seiner Verhaltensweisen die Erwartungen des anderen („du hörst mir nicht zu!“)

Für die Verlaufsform des Streits wird das Muster „Vergeltung mit gleichen Handlungsweisen“ eingesetzt. Klassisches „Wie du mir, so ich dir!“

Sprachliche Auseinandersetzungen bestehen in dieser Altersstufe häufig aus Behauptung und Gegenbehauptung. Der Geltungsanspruch wird durch Wiederholungen der Äußerung und durch Zunahme der Lautstärke verdeutlicht!

Wie werden Konflikte von Kindern bewältigt?

Da werden sieben verschiedene Strategien genannt – und du wirst gleich staunen, was aus Kindersicht die Nummer 1 ist!

1.      Aufhören

2.      Rituale

3.      Streitbeendigung durch Erwachsene

4.      Entfernen von der Quelle des Konflikts

5.      Vergessen

6.      Nachgeben und Verzichten (ist mir jetzt egal!)

7.      Streitauslösende Handlung rückgängig machen (zB. Das Auto zurückgeben, „war nicht gewollt“-Sagen)

Etwa ein Fünftel nennt zum Streit beenden eine höchst elegante und pragmatische Lösung: Einfach aufhören und/oder sich wieder vertragen!

Cool, oder?

Weil Streit und Hauen für viele Kinder identisch ist, ist das Aufhören zu hauen auch gleichzeitig das Ende des Streits und identisch mit "Sich wieder vertragen"!

Das Aufhören kann spannenderweise auch einseitig sein!

Für viele Kinder gehören zum Vertragen noch gewisse Rituale wie z.B. sprachliche Formeln: „Wollen wir uns wieder vertragen?“ – dies ist aber keine echte Frage an den anderen, weil dessen Zustimmung oder Befindlichkeit keine Berücksichtigung findet!

Ähnliches gilt für die Entschuldigung, wenn man sie ausgesprochen hat, ist der Streit erledigt. Ein weiteres Ritual: Sich die Hand geben

Knapp ein Viertel der Kinder geht einen Erwachsenen (meist eine weibliche Erziehungsperson) holen.

Was Experten dazu sagen?

Die Interviews mit den Kindern wurden in Anlehnung an die Arbeit des amerikanischen Psychologen Selman durchgeführt und zeigen ähnliche Ergebnisse. Selman hat in seiner Arbeit drei Stufen von kindlichen Konfliktlösungen definiert. Diese zitiere ich hier wörtlich aus dem Artikel:

„Niveau 0: körperliche Konfliktlösungen

Kinder dieser Stufe können den Unterschied zwischen innerpsychischen Erfahrungen und konkreten äußerlich beobachtbaren Verhaltensweisen nicht bewusst wahrnehmen.

Ihre Vorschläge zur Lösung von Konflikten sind äußerlich: Weggehen von der Quelle des Konflikts (nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn) oder körperliche Gewalt („Hau sie k.o.!“).

Niveau 1: einseitige Konfliktlösung

Auf dieser Stufe können die Kinder zwischen Handlungen und den dahinterstehenden Absichten und Gefühlen des anderen unterscheiden und den Blickwinkel des anderen berücksichtigen. Allerdings gelingt es den Kindern jeweils nur, eine Person bzw. einen Blickwinkel bewusst wahrzunehmen. Konflikte entstehen nach Auffassung dieser Kinder dann, wenn die Handlung eines Beteiligten den Unmut des anderen verursacht, d.h., die Ursache des Konflikts wird nur bei einem einzelnen gesehen. Konfliktlösungsmöglichkeiten bestehen darin, die problematische Handlung zurückzunehmen oder in irgendeiner Weise ungeschehen zu machen bzw. denjenigen, der sich geärgert hat, durch bestimmte Gesten, wie Geschenke, wieder zu versöhnen.

Niveau 2: kooperative Konfliktlösung

Auf dieser Stufe ist das Kind zu selbstreflexivem Denken fähig und erkennt, dass auch der andere über diese Fähigkeiten verfügt. Es kann nun gleichzeitig die Perspektive des anderen mitberücksichtigen und erkennt, dass an einem Konflikt zwischen Freunden beide beteiligt sind und dass auch beide an einer Lösung aktiv mitwirken müssen.“

Die Antworten der Kinder lassen sich gut in dieses Modell einordnen. Die Fünf- bis Achtjährigen haben Lösungen auf dem Niveau 0 und 1 parat, die Zehn- und Zwölfjährigen auf dem Niveau 1 und 2. Von kleineren Kinder verlangen wir Eltern oft schlichtweg zu viel!

Konstruktive Lösungsformen (definiert als: Lösungsvorschläge machen, erklären, sachlich ablehnen, zustimmen) traten nur höchst selten auf.

Was vielleicht hier aus Erwachsenensicht als unangemessen scheint, ist aber – wenn man die Auffassungen der Kinder über Streit berücksichtigt - durchaus angemessen und sinnvoll: Jüngere Kinder betrachten Streit als momentane körperliche Auseinandersetzung, die man eben am besten dadurch beendet, dass man mit dem Schlagen aufhört.

Offenbar wird von den jüngeren Kindern bei ihrem Nachdenken über den Streit die Situation nicht nach dem Gewinner-Verlierer-Prinzip interpretiert, wie das Erwachsene gerne tun, vor allem, wenn sie versuchen den Geschwisterstreit als Schiedsrichter zu lösen.

Gleichzeitig machen die Äußerungen der Kinder deutlich, dass wir vor allem jüngeren Kindern nicht gerecht werden, wenn wir ihr Streit- und Konfliktlösungsverhalten aus dem Blickwinkel von Erwachsenen deuten und bewerten.

Was zivilisierten Erwachsenen wahrscheinlich irritierend und befremdlich erscheint, ist für Kinder aufgrund ihrer Sichtweise und ihrer Auffassung von sozialer Beziehung höchst plausibel und angemessen: Für sie ist die körperliche Auseinandersetzung eine natürliche, selbstverständliche Art der Selbstbehauptung, und für sie gilt eine Moral der strengen Vergeltung: „Wie du mir - so ich dir“ oder „Auge um Auge“.

Und deshalb macht ab und an ein Perspektivenwechsel großen Sinn – die Welt schaut durch Kinderaugen oft ganz anders aus!

Glitzi Glitz und Glänzi Glänz leisteten sich nach den oben erwähnten Abend Gesellschaft in der Ecke, in der sie meist unbeachtet herumlagen!

Neun Jahre danach konnte sich die Zweitgeborene übrigens nicht mehr erinnern. Sie findet es aber im Nachhinein gut, dass ihre Schwester sie damals gefragt hat, denn „Ich hätte ja auch Nein sagen können!“

So einfach ist das manchmal!

Wenn du mehr darüber wissen möchtest, wie du gut mit streitenden Geschwistern umgehen kannst, dann lade ich dich ganz herzlich ein zum kostenlosen Webinar "Geschwisterstreit" auf Youtube - einfach auf das Bild klicken, dann wirst du zum Video weitergeleitet.

Blog Geschwisterstreit

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